Mittwoch, 22. Oktober 2014

Der Vorfall in der Leninstrasse

Brahim Ibish AVDYLI:

(Erzählung)

An jenem Markttag trieb sich Selim der Aussätzige in der Menge herum, matt vor Hunger und in ein trauriges Selbstgespräch vertieft, ohne auf irgendjemanden zu achten. Einen leeren, schmutzigen Flickensack über den Arm geworfen, war er dabei, ein paar einfache geschäftliche Berechnungen anzustellen. Und was für Berechnungen konnten das schon sein?! Mit jenen ausgekörnten, in den Strassen zusammengelesenen Maiskolben würde es ihm nicht einmal gelingen, das Busbillet für die Heimfahrt zu zahlen.
Tatsächlich reiste er wenn immer möglich zu Fuss. Der Bus, wie überladen er auch sein mochte, war ein Luxus, den er selten oder nie in Anspruch nahm. Dichte Staubschwaden oder ein unerwartet durch die Luft fliegender Stein waren das Einzige, was vom Bus für ihn blieb.
Die ganze Woche sammelte Selim der Aussätzige in seinem Sack die leeren Maiskolben, wo immer er welche fand. Im Matsch. Auf der Strasse. In den Hinterhöfen. All die entkörnten und dann weggeworfenen Kolben. Er reinigte sie vom Dreck. Er trocknete sie an der Sonne. Auf dem Markt verkaufte er sie den Leuten, die keine Heizung hatten. Davon gab es viele. Alte, Studenten, Arbeitslose …
Darin erschöpfte sich die ganze Ware, die Selim der Aussätzige in die Stadt bringen konnte. Was für eine Stadt! Entlang der Strasse entstanden von Tag zu Tag neue Häuser. Immer höhere, immer schönere.
„Diese Leute haben entweder eine Verbindung zu Gott, oder das Geld prasselt ihnen den Kamin herunter!“ – sagte Selim. Wenn er sprach, brachen die andern in schallendes Gelächter aus. Nur wenige verstanden ihn. Und auch wenn Selim weinte, lachten die andern oder machten sich über seine Worte lustig. Doch ihm war nicht zum Lachen zu Mute. Im Gegenteil. Er hätte manches Mal geweint, wenn er sich nicht geschämt hätte.
Meistens verspotteten sie ihn. „Er hat keine Verbindung zu Gott“ – sagten sie, „weil er aussätzig ist“. Sein Aussatz begann schon mit seinen Lumpenkleidern und dem verkrümmten Rückgrat. Selbst sagte er, es sei die Kooperative gewesen, die ihm den Rücken kaputt gemacht hatte. Jahrelang hatte er schwere Arbeit in den Staatswäldern geleistet. Als die Zeit der Kollektive beendet wurde, fand er sich ohne Arbeit und ohne Geld wieder.
Von der Kooperative hatte er einen zweiten Nachnamen geerbt: Selim der Proletarier. Seiner Ansicht nach waren alle, die keine „Watte auf den Ohren“ – wir würden sagen, „keine Watte in den Ohren“ - hatten, „Proletarier erster Klasse.“ Das war kein Witz. Er hatte dies ernst gemeint. So wie es der Theorie entsprach. Aber die Ernsthaftigkeit und die Theorie brachten ihn ins Gefängnis. Völlig umsonst versuchte er zu erklären, dass sein Ausspruch aus Gründen der Besitz- und Arbeitslosigkeit entstanden war. Mit dieser Erklärung verrannte er sich vollkommen. Das Bezirksgericht lehnte seine Beschwerde sofort ab und erhöhte seine Strafe um zwei Jahre.
Auch nach dem Gefängnis, als Feind der sozialistischen Staatsmacht, änderte er seine diesbezüglichen Ansichten nicht. Seiner Meinung nach war jeder Mensch, der keine Arbeit hatte, in Wirklichkeit ein Proletarier.
„Auf eine Art gleichen sie den Unglücklichen, den guten Menschen, die nur auf diese Welt gekommen sind, um zu leiden. Sie alle fänden in der andern Welt Belohnung, wenn sie an Gott glaubten, ans Paradies. Leider sind viele von ihnen nicht gläubig“ – sagte er. „Deshalb werden sie auch dort im Höllenfeuer braten.“
„Und die andern?“ – fragten sie ihn.
„Die andern, die warten nicht aufs Jenseits!“ – erwiderte ihnen Selim. „Die andern machen sich an die Güter des Diesseits. Schaut selbst: einige Proletarier kommen weit in ihrer Karriere, werden reich! Sie beginnen mit einem kleinen Laden und am Ende haben sie eine Fabrik!“
Kaum hatte er sich an jenem Tag von der Menge getrennt und war in die Hauptstrasse eingebogen, tastete er seine Jackentaschen ab, wie um sich zu vergewissern. Das Stück Maisbrot, das die alte Mane ihm beim Verlassen des Dorfes geschenkt hatte, war unversehrt. Es stellte ein ganz besonderes Geschenk dar.
Der alten Mane tat er immer leid. Obschon sie selbst eine armselige Alte war, half sie ihm oft. Sie regte sich über die Buben auf, die nie von Selim dem Aussätzigen ablassen konnten.
„Guter Selim, weshalb duldest du es, dass dich diese Strassenjungen plagen!“ – tadelte sie ihn.
„Was soll ich gegen sie tun, brave Mane? Sie umzingeln mich von allen Seiten!“ – gab er zurück.
„Soll sie ein Unheil treffen! Dass sie sich nicht schämen, sich über einen Unglücklichen lustig zu machen!“ verfluchte sie die Alte.
„Unsereins bringt sie nun mal zum Lachen und nicht zum Weinen!“ – erklärte Selim.
„Wir Bedauernswerten!“ – gab die Alte schlussendlich nach. Fand sich unter ihrer zerlumpten Bluse ein Stück Maisbrot, ein Bröckchen Käse oder etwas anderes Essbares, nahm sie es behutsam hervor.
„Da! Nimm einen Bissen!“ - sagte sie zu ihm mit ihrem runzeligen Lächeln im Gesicht.
„Gott möge dich mir erhalten, gute Mane!“ wünschte er ihr aufrichtig.
Für heute hatte er das Brot im Sack. Diesmal ohne Käse, Zwiebel oder Lauch. Was sich unter dem Busen der alten Mane für ihn halt gerade finden liess. Selim der Aussätzige verlangte nie Almosen. Das war nicht seine Art.
„Gott hat mir Hände und Füsse zum Arbeiten gegeben“ – erklärte er. „Und darum will ich Proletarier sein und nicht Bettler.“ Ihm gefiel es, vom eigenen Schweiss zu leben.
Schon als sein Ruf als komiker, als Proletarier entstand, fanden die Leute mehr Gefallen daran, ihr Spiel mit ihm zu treiben als ihm eine Arbeit zu geben! Sein Aussatz waren in Wahrheit die Lumpen und Sorgen, die er mit sich trug.
„Der arme Selim!“ – kommentierte die Alte. „Er kennt keine Hintergedanken!“
Die Hauptstrasse der Stadt war auch heute voller Menschen. Alle Vehikel, Pferdewagen, Autos, Lasttiere und Bauern mit Säcken auf dem Rücken pfadeten sich nur mit Mühe einen Weg durch die Menge in Richtung Zentrum. Selim dem Aussätzigen gelang es kaum, die Strasse zu überqueren, um auf die andere Seite zu kommen. Dabei fiel sein Blick zufällig auf das Schild mit dem Strassennamen. Er näherte sich der blauen Tafel und las, wie um sich zu überzeugen:„Leninstrasse – Ulica V.I.Ljenina“.
„He, bravo Väterchen Lenin! – rief er aus. – Hast deine Strasse gut gewählt! Schau her, überall Geschäfte! Voll mit Ware! Nicht umsonst nannten sie dich den Vater der Armen dieser Welt! Schau nur! Alle hast du sie zu feinen Herren gemacht! Die, die zur Schule gingen, wurden Beamte! Die, die ein Handwerk hatten, wurden Ladenbesitzer! Die, die es verstehen an der Spitze zu stehen, wurden Machthaber! Bravo, Grosser Vater!“
„Mir hingegen hast du nicht geholfen. Arbeit finde ich keine. Einen Beruf habe ich nicht. Gebildet bin ich nicht.“
„Aber ich bin dir deswegen nicht im Geringsten böse. Ein Proletarier muss ein Proletarier bleiben!“
- Hau ab, alter Trottel, und nimm dich in Acht vor den vor der Polizei! – schrie ihn ein Ladenbesitzer an, kaum hatte er ihn gehört.
- Hört mal, was hab ich getan, guter Herr? Ich spreche nur mit mir selbst! – reagierte Selim betroffen.
- Hau ab, hörst du, hab ich dir gesagt! Bring mir kein Gezänk in den Laden! Du hast wie es scheint ein gefährliches Mundwerk! – drohte ihm der Ladenbesitzer erneut und packte ihn am Arm. Selim der Aussätzige entfernte sich ohne einen Mucks.
Nun wurde seine Nase sofort von würzigem Fleischduft gekitzelt. Er war vor der kleinen geöffneten Türe eines Grilllokals angelangt. Ein junger Bursche, dem der Schweiss vor Hitze über die Haut lief, drehte die Fleischstückchen auf dem Grill und blies in die Glut. Der wohlriechende Duft regte Selims Appetit an, der Magen begann ihm zu knurren.
„Wäre es Sünde, wenn Selim der Aussätzige ins Grilllokal träte und ein Köfte ässe? Ein kleines, rundes Köfte?!“ – fragte er sich.
Es war lange her, seit er das letzte Mal ein kleines Bisschen Fleisch in seinem ausgetrockneten Mund gehabt hatte. So etwas wäre etwas ausserordentlich Seltenes, ein unerlaubtes Privileg für einen Proletarier wie er. Und nachdem sein Magen so unerwartet in Versuchung geführt worden war, vergass er sich völlig, so dass er die vier betrunkenen Polizisten in der Ecke des Grilllokals nicht bemerkte. Nicht einmal ihre auf Serbisch ausgesprochenen Bestellungen. Seine Füsse blieben einfach vor der Türe stehen.
Bis er zur Theke gelangte, berührte er mehrmals seine Jackentasche, wie um sicherzustellen, dass das Maisbrot noch dort war. Ganz sachte und versunken in seinen Traum wandte er sich an den Wirt, einen dicken und unsympathischen Mann, der sich kaum hinter der Vitrine zurückhalten konnte:
- Bitte, kann ich ein einzelnes Köfte haben? Das Brot habe ich bei mir im Sack!
- Hau ab, raus! – schrie jener. – Das geht nicht!
- Bitte! Ich zahle. Ich habe Geld für ein Köfte!
- Hau ab, raus, sag ich dir! Belästige nicht meine Kunden! – befahl der andere schroff.
Als Selim gerade weiter erklären wollte, stand ein dicker Polizist auf, stockbetrunken von den vielen Gläsern Bier, die er geleert hatte, und ununterbrochen gähnend vom zu vielen Essen, und packte ihn am Nacken:
- Hau ab, raus, ich f… deine Mutter! – herrschte er ihn auf Serbisch an.
- Oh hört doch! – schrie Selim von draussen. – Ich zahle es! Schaut, ich habe das Geld!
- Scher dich weg, hast du gehört, Bettler! – drohte der Besitzer. – Einzelne Köfte verkaufen wir nicht! Habt ihr das schon mal gehört, er werde es mit seinem mitgebrachten Brot essen! Wo bist du geboren? Auf dem Mond?!
- Nein, hört mich an, hier bin ich geboren! In diesem Wilajet! – gab Selim bitter zur Antwort. – Und dass du es weißt, ich bin kein Bettler! Wenn ich auch auf der Strasse sterben müsste, meine Hand strecke ich nicht aus!
- Ha-a! – lachte ihn der andere aus. – Schau doch die Fetzen die du trägst!
Damit hatte er ihn zu weit in die Enge getrieben. Nie war Selim der Aussätzige in einer schwierigeren Lage gewesen als jetzt. Nicht einmal damals, als er vom Bauholz lebensgefährlich verletzt. „Wäre ich gestorben – sagte er – hätten sie mich zum Helden der sozialistischen Arbeit ernannt!“
- Höre, schämst du dich nicht, so mit mir zu reden? – erwiderte er ihm mit lauter Stimme. – Man sollte meinen, es sollte dir zur Ehre gereichen, dass du deinen Laden an der Strasse Lenins hast! Aber war Lenin nicht der Vater aller Armen der Welt?! He, Väterchen Lenin! Dein Proletarier kann sich nicht einmal ein Fleischbällchen kaufen! Du brichst mir das Herz, Ehrenwort ! – und es fehlte nicht viel, dass Selim in Weinen ausgebrochen wäre.
Noch bevor Selim zu Ende gesprochen hatte, standen die Polizisten vom Tisch auf. Sie packten ihn. Sie warfen ihn zu Boden und schlugen ihn mit Gummiknüppeln und Fäusten, traten ihn mit Fusstritten. Wo sie ihn treffen konnten. Auf den Lärm hin versammelten sich viele Leute. Niemand bot den Schlägern die Stirn und wagte es, etwas zu sagen. Woher sollten die Leute wissen, was geschehen war! Sie schauten nur zu.
- Was hast du gegen Lenin und den Sozialismus? Gegen das Proletariat? Gegen unsere Gesellschaft?
- Gegen die Selbstverwaltung? … - liessen die Polizisten zornentbrannt ihre Wut an ihrer Beute aus.
- Du Mistkerl! Albanischer Nationalist! Albanischer Separatist! Irredentistischer Mistkerl!
- Ich f… deine albanische Mutter! Schwein!
Irgendwann rührte sich die Menge. Die Polizisten fühlten sich herausgefordert von der Bewegung in der Menschenansammlung. Nervös begannen sie zu drohen. Sie hatten den Eindruck, dass die Masse sich mit dem Staatsfeind solidarisierte, der geschlagen, verurteilt, umgebracht werden musste, da er die heiligste Figur des Jahrhunderts beleidigt hatte. Sie sahen nicht auf den Geschlagenen, der die letzten Augenblicke seines Lebens zählte. Sie zogen die Waffen aus dem Gürtel und schossen ein paar Mal in die Luft, ganz nahe an den Köpfen der Leute vorbei.
Davon eingeschüchtert verstreuten sich die Menschen in alle Richtungen. Ein Taxichauffeur, der den Geschlagenen kannte, näherte sich langsam und beruhigte die Polizisten. Er zeigte lange auf ihr Opfer. Im Guten bewegte er sie dazu, ins Grilllokal zurückzukehren, und bestellte ihnen zu Trinken. Dann liess er sich von ihnen die Erlaubnis geben, den Körper des Verstorbenen vom Ort des Vorfalls zu entfernen.
So endete der letzte Proletarier jenes Landstrichs. Das Ereignis hatte kein Echo. Weder eine offizielle Version, noch eine Zeile in irgendeiner Zeitung gab es über diesen Fall!
Es gab lediglich ein paar der üblichen Spötteleien von jenen, die dieses üble Handwerk betrieben.
- Der Unglückliche starb für ein Köfte! – sagten einige.
- Natürlich, er war nicht umsonst der letzte Proletarier! – fügten die andern hinzu.


P.S.
-Diese Erzählug wurde von der Sarah Barbara Gretler,
aus der Buch "Spuren einer Zeit", Faik Konica, Prishtina 2005, übersetzt.

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