Mittwoch, 30. November 2016

Brahim Avdyli - Gespräch mit dem November

Brahim Avdyli


Gespräch mit dem November [1]

1.

November,
Monat der Meditationen,
die Gedanken fallen
wie das Laub von den Bäumen,


wir verbleiben nicht alleine
mit den entrindeten Sprossen im Wind,

der Wind dringt bis in die Knochen,
wegen der geschwängerten Luft
stirbt etwas und es wird wiedergeboren
in den Poren des Liedes
in den Poren der Tränen…


2.

Du Monat des Schmerzes
erwachst mit ihnen,
wie der Wind das dürre Laub,

sammelst du die Wolken um dich herum
und rennst, um das letzte Loch
im Horizont
zu verschliessen,

einen herbstlichen Walzer tanzend
nimmst du die gefallenen Blätter auf,
bewegst die entrindeten Schösslinge,
schaukelst sie im Raum hin und her
zu traurigen Wiegenliedern.

3.

Wenn der Wind durchdringend weht
erschütterst du die Fenster der Herzen
aus Verzweiflung,

weil der Verrat sich
dort, wo die Sonne aufgeht,
unbemerkt zu einem Berg anhäuft,

und sie lassen dich noch immer nicht hinaus
sie lassen dich nicht leuchten

sie lassen dich nicht die Jahreszeiten wechseln
die Zeit in unseren Seelen erneuern,
so sehr es dein brennendes Herz auch will…


4.

Schaut, jenseits des Nebelmeeres
die Kyrenaiker,

deren Geduld am Ende ist,
wie sie die Erde zum Beben aufrufen,


die Erde soll beben -
die Magmen glühen auf,
um den Mund der Erde zu öffnen,
um das Gedankenlava

gerechtfertigt
in Richtung Sonne zu kotzen,


werden es wohl die Wolken
in den feurigen Jahreszeiten aushalten können,
oder werden sie vor dem Schrecken,
der sie durchfährt, platzen..?!


5.

Manchmal bis du, November,
das Vorwort zum Winter,


die ersten Zeilen der Wolken
sind nur lärmige Reklamen
für den Schnee, der kommen wird...

wir spüren den kommenden Eiskönig
den gewaltigen König
der mit seinem Spazierstock
hysterisch an die Tore der Tage hämmert,
den Morgen aus dem Schlaf reisst,


wir spüren
wie das krankhafte Niesen
in den geschwollenen Adern faucht,
den entzündeten Adern der Tage.



6.

Die letzten Zeilen werden nicht warten
auf den Sturm des Hauches der Menschen,

es wird das Eis schmelzen
in der Seele der Dinge.

Werden die Wolken
den Schwingungen des Aprils standhalten?!

Der Mai, der rote Mai,
fern wird er sein, wir wissen es,
fern wie ein Traum könnte er sein

doch trotzdem strahlt er uns
mit seinem blühenden Lächeln an.

7.

Jetzt, Silo des Kummers,
ergiesst sich deine bittere Lymphe
auf den Boden und ins gegraute Gras.

Die Zweige reissen die Haut
vor deiner Peitsche auf,
sie weinen dem verlorenen Grün nach
und richten ihre enthäuteten Finger
direkt auf den schwarz gewordenen Kelch...

8.


Wir haben erwartet,
dass du uns deine Körbe
gefüllt mit den Früchten unserer Mühen bringst,
November.

Dieses Glückskorn,
das wir getrocknet haben,
von allen Gesängen –

wir haben erwartet,
dass es goldbraun auf der Hand liegt
wie ein gebackenes Brot,
und dass es so schmackhaft ist
wie ein Apfel,

für dieses
wurden unserer Schatten geschält.

9.

Wie unbarmherzig
sind deine Wolken
wenn sie an den Zweigen hängen,

die Hände des Glücks haben nicht alles gesammelt,
was sie sammeln könnten,

deshalb
tröpfelt aus den gebrochenen Schösslinge der Zweige
ohne Unterlass
nur die Lymphe des Schmerzes...

10.

Wer zieht uns
die Leitern vor der Geburt weg,
sodass wir tief unten verbleiben,
 wiederholend die verfluchte Sisyphusarbeit
mit der verletzten Sonne auf dem Rücken,

 dort unten, wo die Spinnen
die Hypokrisie hervorbringen,
während sie mit den Händen den Winterschal weben,

sie stricken
ein Band aus dem Geheul
im Herzen der Erde!


11.

O diese verfluchten Spinnen,
wie gross sind sie geworden,
und ganz frei krabbeln sie
den Bluttropfen nach.

Die Erde bebt, November,
die Spinnen verwandeln sich in Nashörner
in Fleischfresser,
sie zehren unersättlich am Überfluss der Geduld,

wo immer sie können
kotzen sie Apokalypsen –
den Eiter der Löcher, welche die Sonne nie erreichte.

12.

Dein Beben muss jene schütteln,
die sterben,
damit die Poren des Seins wiederbelebt werden können.

Es muss der Tag kommen,
an dem du deine Adern anschwellen lässt
und die Flussbetten nicht beachtest,

wenn die Orkane toben,
wenn deine Stürme
den schmutzigen Umhang der Zeit zerreissen
und wenn alle verlogenen
Idole fallen,

denn du, November, bist
das Ende eines Segments,
durch welches sich die Zeit streckt und misst!


13.

Hunderte Male warst du bei uns,
doch ausser der Verzweiflung ernteten wir nichts,
deine dürren Blätter
zählten wir deshalb.

Wir waren diese Sprossen,
die dich seit jeher am Stamm der Jahrhunderte erwarteten,
immer mit gebrochenen Ästen,

mit abgerissenen Spitzchen
und schrundiger Haut,

Sprossen, die entkleidet wurden,
und im Frühling grünten-

welchen die Lymphe
wie Tränen über die Wangen der Tage floss!

14.

Wie können wir die Blätter
wie eine Decke über die Erde werfen,
bevor der Frost hereinbricht,
bevor der Schneesturm
die Wurzeln des Grases erfrieren lässt.

Fanatisch bewahrten wir den grünen Traum
unter der gerissenen Haut,

wir kauten die ganze Zeit
die Flüche der Dornenbüsche,
welche mit ihren Krallen
das All erschufen.

15.


Und durch deine Wogen
wurden viele Herzenspflanzen
zu Boden geknickt,
November.

Sie fielen im Luftwirbel
und ewig wird man ihrer gedenken.

Sie zeigten uns allen,
wie sich die Zeit in der Seele der Dinge verhält-

Das einzige Beispiel der Schönheiten
waren sie,
der Wunder,
die einen Augenblick nur währen.


16.

Wenn du kamst,
streichelten die Eichen meiner Liebe

die Treppen
mit ihren Händen knackender Zweige,

jedes Mal, wenn die Beile
eine grüne Quelle am Stamm vertrockneten,
diese wilden Beile,
geschärft in den Ecken, wo die Kohle den Russ abgibt
und die mit Teer getränkten Lungen,
angelehnt an die gebrochenen Zweige,
an jene, welche
die stolzen Eichen von sich wegwerfen
und nicht anerkennen!


17.

Das erste Mal
kamst du über das blanke Schwert
der roten Strahlen,

es war ein feuriger Regenbogen,
der die Herzen verband

und der aus dem Himmel der Lieder
alle Wolken sammelte,
und sie versengte,

durch Farben hindurch
die Horizonte siebte
und die weissen Räume erneuerte.

Hinunter zur Erde brachte er dann
den Glanz der Herrlichkeiten,
und mit ihm vermass er die Grundstücke.

18.

Streckte seine Lichtstrahlen
von einem Hügel zum anderen
und verband
die Garben der Ernte
mit dem Faden des Verstehens
und dem Vorbild,
welches sich nicht oft wiederholt.

Wir
begannen die Zahlen mit jener Jahreszeit,
und die Kinder
zogen wir mit dessen Namen auf.


19.

Danach haben wir uns oftmals
durch die Risse der Felsen
gedrückt,
einsam,
verstreut,

wir wälzten uns im Sand
bis die Tage wegen der Dunkelheit platzten,

wir erwarteten die Donnerschläge
der noch verbliebenen Lebensjahre,
dass sie unerwartet einschlügen,
um den Boden
unter den Eichen zu erschüttern,

sodass gesiebt würde ein Grossteil
der Lymphe durch die Hoffnungszweige!

20.


Das zweite Mal kamst du hastig an
uns fehlte die Zeit
um alle Fetzen des Lebens einzusammeln-

eilend mussten wir
die Hütte der Zukunft erbauen

um sogleich Platz
für die Sofra[2]
der Liebe zu haben
und für eine Wiege
für unsere Wiedergeburt,

wir mussten uns erholen
bevor die Winter, welche die Stirn
der Tageskarawane drückten, ankamen…

denn “durch die Türen
der grossen Tragödien
teilte sich das Glück der kleinen Völker”.

21.


Andere Male kamst du
mit zwei Gesichtern
die sich wie der Tag von der Nacht unterschieden,
deshalb haben wir einen Grund
um uns in jeder Jahreszeit
weiter zu bemühen

um uns als ein einziger Laib Brot
zu backen!

Und wenn wir dich würdig hervorbringen
mit dem goldenen Strahlenkranz
wirst du der dritte November sein,

dann werden wir nie mehr
mit den schrecklichen Abenteuern
der Gedichte
über die Gebirgen fliehen..!


22.

In dieser Zeit
spielen die Karnevale überall
und sie versuchen die Luft
in ein glückliches Gemälde zu färben,
deshalb wanderte ich, um die Welt zu sehen.

Dein unechtes Bild
verwirrt mich, November,
wegen den gefälschten Unterschriften,

wie kann ich dein Lachen erklären
wenn du eigentlich weinen solltest

und dein Weinen, wenn du lachen solltest
dein Aufschreien, wenn du geduldig sein solltest
und die Trägheit
in den Augenblicken der unabdingbaren Bewegung.

Viele Farben hast du
ungeordnet in die Welt gesetzt,
unschön,
Farben im Einklang mit den Karnevalen!


23.

Deine herbstlichen Trommeln
bringen meine Tränenquellen
unter den schlaflosen Augenlider
zum Fliessen,
während ich über den ungewöhnlichen Karneval
jenseits den Bergen nachdenke.

Keinesfalls kann im Herzen
Ordnung geschaffen werden,
zerbrochene Fenster
vom Versuch, die Liebe durch das Gitter
einer unerträglichen Schale zu befreien!

24.


Zu steigen
auf die Berge der Gedanken,
um die Welt von oben zu betrachten-

dies gleicht
einer fürchterlichen Verwirrung:

neben dem Brot – Hunger,
neben dem Frieden – Gewalt,
neben dem Schmerz – Gesang,
neben dem Gesang die Tragödie…

doch sprechen wir nicht mehr
mit dem verbotenen Wortschatz,
es könnten die Kuckucke
in unser Knochenmark eindringen,
und wer weiss, ob uns dann jemand
die Hand der Gnade hinstreckt-

der Schmerz
ist sowieso das Monopol des gemeinen Volkes
dem niemand die Hand bietet!


25.

So, November-
du solltest das Resümee ziehen
aus allen geschriebenen Seiten
des Lebens, das geboren wird
in den Seelen der Dinge,

und ein unantastbarer
November werden.

der Wind soll
die Wellen der Seelen mitnehmen,
er soll damit ein Feuer des Gesanges machen,
einen Kranz frischer Atmungen..!

Nur so kannst du
unser dritter Jahrestag sein-


Unsterblicher November!

(Zürich, 1989-1991)



[1]  Die Geschichte der Albaner ist sehr eng mit dem November verbunden. Geschichtlich ist der 28. November 1444, als der albanische Nationalheld Skanderbeg aus dem Ottomanischen Reich in seine Heimat Kruja zurückkehrte, um dann gegen die Ottomanen, die sein Land erobert hatten, zu kämpfen, bei den Albanern als “der Erste November” bekannt. Und der 28. November 1912, als in der Stadt Vlora die Unabhängigkeit Albaniens erklärt wurde, ist als “der Zweite November” bekannt. Die Hälfte der Territorien, des um 1912 als unabhängig erklärten Albaniens wurden von verschiedenen Balkanländern erobert, und die Albaner warten auf “den Dritten November”, in der Hoffnung auf die Wiedervereinigung Albaniens.

[2]  Runder, niedriger, traditioneller Esstisch der Götter und Albaner